Donnerstag, 19. November 2015

Madness, Geborgenheit und Freitod. Bov Bjerg: Auerhaus

Irgendwo im Umland von Stuttgart, irgendwann in den 1980ern: Goethe habe Werther doch nur in den Selbstmord geschrieben, „damit das Ende gut knallt“, verkündet Gymnasiast und Erzähler Höppner im Deutschunterricht. Ohne zu wissen, dass unmittelbar zuvor sein Freund Frieder einen Suizidversuch unternommen hat.
In die elterliche Obhut soll er nach seiner Therapie nicht mehr, also zieht er in das alte Bauernhaus seiner toten Großeltern. Das die argwöhnischen, im Englischen nicht sattelfesten Nachbarn „Auerhaus“ nennen, weil dort den ganzen Tag „Our House“ läuft. Innerhalb kurzer Zeit wächst die WG um die promiske Vera, die verwöhnte Cäcilia, die Brandstifterin Pauline und – nach einem unglücklichen Outing in der Familie – den schwulen Lehrling Harry an. So wie ein Weltfußballer auf engstem Raum zaubert, gelingt es den WG-Bewohnern, in der biederen Umgebung Anarchie mit Geborgenheit zu verbinden. Zumindest für eine Weile. „Wir lebten ein richtiges Leben mit Aufstehen und Frühstückmachen und Federballspielen, mit Essenbesorgen und zusammen kochen.“ Trotz seiner Instabilität ist Frieder das Zentrum der „randständigen Jugendlichen“, wie sie ein Anwalt später nennen wird. Denn ja, es gibt großen Ärger, und das nicht wegen des wissenschaftlich optimierten Ladendiebstahls, durch den sich die WG ernährt.
Glänzende Träume und hässliche Arbeit in der Hühnerfabrik, Angst vor der Bundeswehr, gefällte Christbäume und dazu sinnloser Lehrstoff. „Alles dabei, was wir später brauchen würden: Blutkreislauf, Rechtsstaat, Bruttosozialprodukt.“ Lakonisch und gefühlsgenau erzählt Bjerg von seinen Themen, in einer Sprache, die sich Jugendlichen nie anbiedert. Wie jeder gute Kabarettist hat er ein feines Gespür für die Brücke zwischen Tragik und Komik. Seine 17-Jährigen stattet er mit einer gelassenen Melancholie aus, die den eingangs erwähnten Werther beschämt hätte. „Es war echt erstaunlich, wie kindisch die Erwachsenen zu Goethes Zeiten waren.“
Den Vergleich mit Herrndorfs „Tschick“ soll man nicht allzu stark bemühen, aber gemein ist den beiden Büchern, dass sie man sie Jugendlichen und Seniorinnen gleichermaßen empfehlen möchte, und zwar wärmstens.

Bov Bjerg: Auerhaus. Roman. Blumenbar, 240 S., 18,50 Euro

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